Der verschwörungsideologische Jahresrüblick

Es war ein gutes Jahr für das Milieu der „Trut­her“ und „In­fo­krie­ger“, die die Ver­fasst­heit der Welt ver­schwö­rungs­ideo­lo­gisch um­deu­ten. Schließ­lich gab es die ein oder an­de­re Ka­ta­stro­phe, den ein oder an­de­ren Ter­ror­an­schlag und die große ka­pi­ta­lis­ti­sche Krise, die die Ver­schwö­rungs­sze­ne in ihrem Sinne deu­te­ten konn­te. Zeit für einen Rück­blick über die wahn­haf­tes­ten und wirrs­ten Ver­schwö­rungs­kon­struk­te des ver­gan­ge­nen Jah­res.

Am 11. März 2011 kam es zum ver­hee­ren­den Erd­be­ben in Japan, ge­folgt vom Strah­len­un­fall von Fu­kus­hi­ma. Beide Er­eig­nis­se wur­den zum Ren­ner in der ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Szene. Hier ging es nicht um Empathie mit den Op­fern der Ka­ta­stro­phen, son­dern darum, diese Er­eig­nis­se in das ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Welt­bild ein­zu­ord­nen. Her­aus kam die ganz be­son­ders per­fi­de Theo­rie von der an­geb­li­chen Erd­be­ben­waf­fe, die gegen Japan ein­ge­setzt wor­den wäre.

Die „Grup­pe Ar­bei­ter­fo­to­gra­fie“, die an­sons­ten Pro­pa­gan­da für das ira­ni­sche Re­gime be­treibt, stell­te bei­spiels­wei­se die Frage, wer das Erd­be­ben an­ge­ord­net und aus­ge­führt hätte. Sie fol­ger­te, dass eine su­per-​ge­hei­me Erd­be­ben­waf­fe in Ein­satz ge­we­sen wäre. Auf an­de­ren In­ter­net­sei­ten wur­den gar die Er­eig­nis­se an sich in Frage ge­stellt. Hier war von einem „an­geb­li­chen Erd­be­ben“ die Rede, das in den Stu­di­os von BBC-​Lon­don ent­stan­den wäre. habe. Die Ka­ta­stro­phe wurde dort als „eine reine Er­fin­dung von Be­hör­den, Me­di­en und Po­li­ti­kern“ be­zeich­net.

Doch die Um­deu­tung der Er­eig­nis­se von Japan war endgültig vom Tisch, als am 26. Juli 2011 der ras­sis­ti­sche Mas­sen­mör­der An­ders Beh­ring Brei­vik seine blu­ti­gen Taten voll­brach­te. Be­reits am Tag der An­schlä­ge von Oslo und Utoya ent­stan­den die ers­ten Ver­schwö­rungs­theo­ri­en.

Zum klei­nen Ren­ner avan­cier­te ein an­geb­li­ches Ufo, das ei­ni­ge „Trut­her“ und „In­fo­krie­ger“ in einem YouTube-​Vi­deo der Ge­scheh­nis­se ent­deckt haben woll­ten. Dabei han­del­te es sich le­dig­lich um eine ty­pi­sche Stra­ßen­la­ter­ne, die die Haupt­stadt Nor­we­gens be­leuch­tet.

Neben die­ser eher amü­san­ten Theo­rie wur­den auch offen an­ti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­theo­ri­en pro­pa­giert. Hier wurde der Mas­sen­mör­der An­ders Beh­ring Brei­vik, der in sei­nem ab­sur­den Ma­ni­fest davon ge­spro­chen hatte, dass die USA ein „be­trächt­li­ches Ju­den­pro­blem“ hät­ten, gar zu einem Agen­ten des is­rae­li­schen Ge­heim­diens­tes Mossad ge­macht.

Als Be­weis führ­ten die Ver­schwö­rungs­fans eine blau-​wei­ße Kra­wat­te an, die der Täter ge­tra­gen hatte. In an­de­ren Theo­ri­en wurde der Täter zum Opfer eines an­geb­li­chen Ge­hirn­wä­sche-​Pro­gramms na­mens „Mind Con­troll“. Er wurde in eine Reihe mit ver­schie­de­nen an­de­ren At­ten­tä­tern ge­stellt, die die­sem Pro­gramm an­geb­lich eben­falls zum Opfer ge­fal­len wären. Hier wurde an den Ken­ne­dy-​At­ten­tä­ter Lee Har­vey Os­wald oder den Len­non-​Mör­der Mark David Ch­ap­man er­in­nert. An­ders Beh­ring Bre­vik wurde auf diese Weise als das ei­gent­li­che Opfer dar­ge­stellt, der ras­sis­ti­sche Mör­der und seine Ideo­lo­gie ent­las­tet.

Ein wei­te­res hei­ßes Thema in der Ver­schwö­rungs­sze­ne war die ka­pi­ta­lis­ti­sche Krise und ihre Fol­gen. Ver­schie­de­ne Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker schau­ten in ihre Glas­ku­geln und pro­phe­zei­ten die bal­di­ge Wie­der­ein­füh­rung der Deut­schen Mark.

Sehr be­liebt war die große Forst­wa­gen­ver­schwö­rung, die von der an­ti-​fe­mi­nis­ti­schen Ikone Eva Her­man be­wor­ben wurde. Die be­haup­te­te, in den mitt­ler­wei­le ein­ge­stell­ten Kopp–Nach­rich­ten, dass die neue Deut­sche Mark, der feuch­te Traum aller An­ti-​Eu­ro­pä­er, insgeheim in der Schweiz ge­druckt und durch unauffällige Forst­wa­gen durch die Bun­des­re­pu­blik kutschiert wer­den würde.

Die Wie­der­ein­füh­rung der Deut­schen Mark wurde am 16. Au­gust 2011 an­ge­kün­digt. Al­ler­dings läßt diese Ein­füh­rung bis heute auf sich war­ten. Viel­leicht zeigt auch die­ses Er­eig­nis auf, dass Ver­schwö­rungs­theo­ri­en nur wenig mit dem ganz rea­len ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­scheh­nis­sen zu tun haben, dafür aber viel mit mo­der­nen Mär­chen, denen die leicht­gläu­bi­gen Men­schen, die nach einer ein­fa­chen Er­klä­rung su­chen, zum Opfer fal­len.

Der Jah­res­tag der mör­de­ri­schen An­schlä­ge vom 11. Sep­tem­ber 2001 wurde von der Ver­schwö­rungs­sze­ne ge­nutzt, um auf die Stra­ße zu gehen. Zwi­schen vier– und fünf­hun­dert Men­schen be­tei­lig­ten sich am 10. Sep­tem­ber 2011 an einem Auf­marsch in Karls­ru­he. Die­ser wurde von der Ver­schwö­rungs­band „Die Band­brei­te“ mu­si­ka­lisch be­glei­tet und vorab in den Kopp–Nach­rich­ten be­wor­ben.

Der Auf­marsch stell­te den sicht­ba­ren geis­ti­gen Ab­grund dar, dem sich die Ver­schwö­rungs­sze­ne auch in Deutsch­land er­ge­ben hat. Hier kamen Ver­schwö­rungs­fans, Chem­trail-​Ideo­lo­gen und Sek­ten-​Mit­glie­der zu­sam­men, um gegen die USA zu het­zen. Hier wurde an deut­sche Ge­füh­le ap­pel­liert, hier wur­den die USA zu den ei­gent­li­chen Ter­ro­ris­ten ge­macht. Hier wurde ein Jahr­hun­dert der Ver­schwö­run­gen pro­pa­giert, mit dem auch Krie­ge wie der zwei­te Welt­krieg um­ge­deu­tet wer­den kön­nen. Auf dem Auf­marsch sprach schließ­lich Chris­toph Hörs­tel. Er hielt dort eine böse Brand­re­de, in der er unter an­de­rem den „Freun­den von Rechts“ Recht gab und gegen die „west­li­che Ver­bre­cher­ban­de“ hetz­te.

Zum Ende des Jah­res wur­den die Na­zi-​Mör­der des „Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Un­ter­grunds“ ent­las­tet. Eva Her­man sprach bei­spiels­wei­se von einer an­geb­li­chen Ver­schwö­rung des ame­ri­ka­ni­schen Ge­heim­diens­tes CIA. Am 14. No­vem­ber 2011 ver­las sie die Nach­richt über einen an­geb­li­chen CIA–„Ge­heim­bund“, der „rech­te Grup­pen“ un­ter­wan­dern würde.

Hier er­in­ner­te sie an die Morde des An­ders Beh­ring Brei­vik und be­rief sich auf omi­nö­se „Be­ob­ach­ter“, die davon aus­ge­hen wür­den, dass auch die „soge­nann­ten Dö­ner­mor­de“ von der „Ge­heim­or­ga­ni­sa­ti­on ko­or­di­niert wer­den“ wür­den. Offen ras­sis­tisch ar­gu­men­tier­te der ehe­ma­li­ge Junge Welt Autor Jür­gen El­säs­ser, der von „neun Döner Tür­ken“ schrieb und die Na­zi-​Mör­der ent­las­te­te, diese hät­ten mit den Taten nichts zu tun, be­haup­te­te die­ser Stich­wort­ge­ber der Ver­schwö­rungs­sze­ne zeit­wei­lig. Ver­schie­de­ne Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gen of­fen­bar­ten die an­geb­li­chen Hin­ter­grün­de und mach­ten CIA oder Mossad ver­ant­wort­lich.

Für die Ver­schwö­rungs­sze­ne en­de­te das Jahr also, wie es be­gon­nen hatte. Die his­to­ri­schen Er­eig­nis­se wur­den in ihrem Sinne um­ge­deu­tet und die an­geb­li­che Ver­schwö­rung pro­pa­giert. Dies wird auch im nächs­ten Jahr nicht an­ders aus­se­hen, wenn die Ver­schwö­rungs­sze­ne ihre Er­klä­run­gen zu den nächs­ten Er­eig­nis­sen prä­sen­tie­ren wird. Denn auch im neuen Jahr dürf­ten die kom­men­den Er­eig­nis­se auf diese Weise ver­klärt wer­den.

Wenn im Jahr 2012 Nazis und Ras­sis­ten mor­den, wer­den sie is­rae­li­sche oder ame­ri­ka­ni­sche Ge­heim­diens­te ver­ant­wort­lich ma­chen, wenn die Erde bebt wer­den sie von an­geb­li­chen Erd­be­ben­waf­fen träu­men und wahr­schein­lich wer­den sie mal wie­der die bal­di­ge Wie­der­ein­füh­rung der Deut­schen Mark ver­spre­chen. Es sind gol­de­ne Zei­ten für Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gen und die An­hän­ger_in­nen von Ver­schwö­rungs­theo­ri­en, dies hat auch das Jahr 2011 ge­zeigt.

LEICHT ÜBER­AR­BEI­TE­TE UND ER­GÄNZ­TE VER­SI­ON EINER RA­DIO­KO­LUM­NE, DIE IN DEN VER­GAN­GE­NEN TAGEN IM RADIO CORAX ZU HÖREN WAR. DIE KO­LUM­NE KANN HIER HER­UN­TER­GE­LA­DEN UND AN­GE­HÖRT WER­DEN.
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