“12. Dezember. Cincinnati.
Soeben bin ich von einer typischen von deutschen Genossen organisierten Versammlung zurückgekehrt. Der große Saal war gestopft voll. Kein Wunder auch, hatten doch die Sozialisten eine ‘deutsche Versammlung’ angekündigt, ohne zu sagen, dass eine Russin sprechen würde, noch dazu eine internationalistisch eingestellte Sozialistin! Alle möglichen Leute waren gekommen, eine Menge Spießer, brave deutsche Bürger. Auf ein paar Hundert kamen ein, zwei Dutzend Frauen.
Nach der Versammlung ist alles ganz anders als bei den amerikanischen Kundgebungen. Dort kommt man zu mir, sagt mir in herzlichem Ton: ‘Eine glänzende Rede. Gerade das haben wir uns gewünscht: mehr revolutionären Geist in der Bewegung’. Gewöhnlich kommen Proletarier mit sympathischen, ehrlichen Gesichtern; sie schimpfen auf die führenden Leute, sind voller Enthusiasmus und Glauben an die Massenbewegung
‘Die amerikanischen Arbeiter vermögen keine Opfer zu bringen’, beklagen sich die Deutschen über sie. ‘Da haben sie gerade erst eine Gewerkschaft organisiert, doch statt zunächst durch ordentliche Beitragszahlungen die Kasse zu stärken, zetteln sie gleich einen Streik an.’
Eine typisch deutsche Argumentation: Die Organisation ist Selbstzweck.”
Alexandra Kollontai: Aus dem amerikanischen Tagebuch 1915