Der Abend der Sozialdemokratie

Oldenburg: Ansammlung von Häusern in der Grenzregion zu Ostfriesland. Besorgte Bewohner_innen betreiben anti-israelische Debatten, die Leserbriefspalten, Weblogs und Kommentarfelder füllen. In den vergangenen Monaten urteilten sie über Israel, weil sich ein hiesiger Pädagoge als Aktivist der antisemitischen Bewegung “Boycott, Divestment and Sanctions” (BDS) inszeniert. Nun wurde auch unter Sozialdemokrat_innen über den Aktivisten, die Boykottkampagne und Israel gesprochen.

Vorgeschichte zur Veranstaltung

Der Lehrer, Christoph Glanz, geht derzeit juristisch gegen eine sozialdemokratische Stadtratsabgeordnete vor. Sie war eine der wenigen Personen, die eine adäquate Einordnung der Ideologie des Aktivisten vornahm. Währenddessen solidarisierte sich der hiesige Ableger der sogenannten Linkspartei, deren bekanntester Kader als Verteidiger des Lehrers in Erscheinung tritt. Teile der Gewerkschaftsbürokratie boten dem Pädagogen zuvor eine Publikationsmöglichkeit abseits von Weblogs wie dem antisemitischen Portal “The Electronic Intifada”. 

Einheimische schrieben derweil Leserbriefe und Kommentare. Deutsche Befindlichkeiten wurden in der Lokalzeitung und im Netz ausgelebt.  Manche beklagten eine angebliche “Besatzung und Kolonisierung”, um sich für die Boykottbewegung und damit gegen den Staat der Shoah-Überlebenden auszusprechen. Andere beschwerten sich derweil über “infla­tio­nä­re Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fe”. Kritik wurde zum “Kon­stru­ie­ren von ‘Argu­men­ten'” gemacht, während sich weitere Akteure gar in einem “Unterdrückungskrieg” wähnten, für den der israelische Staat verantwortlich sei.

Für den sozialdemokratischen Ortsverband der Anlass, um am 17. November in einer Kneipe zu einem “Oldenburger Abend”  einzuladen. Im Hinterzimmer der mit kubanischen Stilelementen ausgestatteten Lokalität sollte über Antisemitismus und Israel gesprochen werden. Lokalpolitiker_innen und Mitglieder des saturierten Bürgertums waren zusammengekommen, um sich Fragen zu widmen. Bei Becks und weiteren Kaltgetränken, fast in direkter Nähe zum ikonischen Wandporträt des kubanischen Leninisten Ernesto “Che” Guevara, versuchte die Sozialdemokratie, Antworten zu geben.

Fragen der Sozialdemokratie

“Was ist Antisemitismus? Was ist Kritik an der Politik der Regierung Israels?” Fragen des Ortsverbandes, die auch anti-israelische Akteure zur Teilnahme motiviert haben mag. Antworten sollte zunächst Helmut Hafner formulieren, der als Mitarbeiter der Bremer Senatskanzlei unter anderem für religiöse und weltanschauliche Fragen verantwortlich ist. In dieser Funktion organisiert er im dortigen Rathaus die “Nacht der Jugend”, die “jährlich zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht” stattfindet, um auch mit Rap und Rock toten Jüdinnen und Juden zu gedenken.

Als Verantwortlicher trat der selbsternannte “Exot” in der Vergangenheit vor die Presse, um für die abendliche Zusammenkunft zu werben. Der TAZ erzählte Hafner zum Beispiel, wie er einen jüdischen Schüler belehrte, der eine Kritik formulierte, als tanzende Cheerleader am Jahrestag der deutschen Pogrome ein “Zeichen” setzen sollten: “Diese 15 jungen Frauen aus acht Nationen üben das ganze Jahr, nun wollen sie ihren Sport hier zeigen, um ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus zu setzen. Willst du die draußen haben”, fragte der Referent, der sich nicht vom Vorhaben abbringen ließ, sodass die Truppe auftrat.

Unter Werbebannern der Sozialdemokrat_innen saßen der Landtagsabgeordnete Ulf Prange, der durch den Abend führte, sowie Hafner, der ein Impulsreferat hielt, bevor Teile des Publikums Wortbeiträge formulierten. Lokalpatriot Prange, dem laut Werbebanner “unser Oldenburg am Herzen” liegt, eröffnete im überfüllten Hinterzimmer des “Havanna” durch eine bezeichnende Einleitung, mit der er die Fragestellung entscheidend ausweitete. Der Landtagsabgeordnete sprach von “berechtigter Israelkritik”, die sich angeblich vom ordinären Antisemitismus unterscheiden würde. Nach dieser Eröffnung, die manche Geschehnisse des Abends vorwegnahm, übergab er an den Referenten der Sozialdemokratie.

Provinzkneipe: Versammlungsort der Sozialdemokratie

Positionen deutscher Sozialdemokrat_innen

Helmut Hafner befasste sich weniger mit den Strukturen des Antisemitismus, sondern positionierte sich zunächst in Bezug auf den andauernden Krieg zwischen antisemitischen Rackets wie der Hamas und der bürgerlichen Demokratie in Israel. Er wollte “mehrere Wahrheiten” ausgemacht haben. Nicht näher benannte “Großmächte”, die “seit über 100 Jahren in der Region” aktiv seien, wurden im Anschluss in Mitverantwortung genommen. Nach wenigen Worten zur industriellen Vernichtung von Jüdinnen und Juden widmete sich der Referent dem Begriff des Antisemiten.

„Für mich gibt es keine schlimmere Benennung eines Menschen, als wenn man ihn als Antisemiten bezeichnet“, urteilte Hafner. Der Referent machte einen “inflationären Gebrauch” der Bezeichnung aus, die wie “ein Makel” wirken würde. Daher meidet er die gefürchtete Einordnung. So schien Hafner altbekannte Diskurse zu reproduzieren, die die deutsche Debatte in den Vergangenheit prägten. Auf den Spuren von Walser und Augstein wurde die Benennung und Einordnung von Antisemiten verweigert.

Eine Reproduktion gängiger Denkmuster deutscher Ideologie ließ sich im weiteren Verlauf des Referats erleben. Hafner bezog sich dabei auf einen Begriff der revisionistischen Propaganda, mit dem Deutsche schon in den 1950er Jahren gegen Kritik immunisieren wollten. Sie konstruierten eine durch Alliierte erhobene “Kollektivschuld”, unter der die Deutschen leiden würden. So machten sich die Apologeten, die gegen die angebliche “Kollektivschuld” ansprachen, zu Opfern geschichtlicher Vorgänge, ohne dass Verantwortung benannt werden musste.

Dieser Begriff, der heute in Redebeiträgen nationalsozialistischer Hetzer zur Entlastung bemüht wird, wurde durch den Referenten verwendet, um kollektive Schuld für die anwesenden Nachfahr_innen abzuwehren. In diesem Fall konnte Hafner Teile des Publikums beruhigen: “Es gibt keine deutsche Kollektivschuld”, formulierte der Redner. Schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts, in dunklen Zeiten der Adenauer-Ära, löste der Begriff der Kollektivschuld, ein Konzept zur Abwehr von Erinnerung, stets rituelle Empörung aus. Im neuen Jahrtausend reicht ein Abstecher zu Sozialdemokrat_innen, um ähnliche Empfindungen zu erleben.

Im Laufe des Abends redeten Zuhörer_innen ins Saalmikrofon, um den Redner in seiner spezifischen Form der Empörung zu bestätigen. Ein SPD-Mitglied aus Wilhelmshaven meldete sich bald nach den ersten Einlassungen des Referenten zu Wort, um von unschuldigen Verwandten und seiner Person zu berichten – sowie gegen “Kollektivschuld” anzusprechen. Er wurde durch den Mitarbeiter des Bremer Senats bestätigt, der seine Konstruktion der kollektiven Unschuld wiederholte.

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Tischdekoration: Deutsche Phrasen gegen Stillstand

Freund_innen der Sozialdemokratie

Helmut Hafner verwies wiederholt auf Kooperationen mit dem anwesenden Sprecher einer pro-palästinensischen Organisation, der ebenfalls aus der nahen Großstadt angereist war. Mit seinem “Bruder” hätte er es geschafft, “Konflikte nicht in Bremen” auszutragen. Die Vielzahl antisemitischer Aufmärsche, Aktionen und Attacken, die es seit vielen Jahren in dieser Metropole gibt, spielten nur eine nebensächliche Rolle. Hafner redete kaum über Manifestationen gegen Israel, an denen sich in der Vergangenheit mehrere tausend Menschen in Bremen beteiligten. Stattdessen stellte sich der promovierte Theologe als Mittler dar, der einen fernen Konflikt zumindest am Wohnort befriedet.

Hafner schwieg von den Inhalten der Organisation, zu der der “Bruder” gehört. Von aktuellen Einlassungen des Verbandes, der in einem Tonfall von Paranoia vor dem “Bau von Kolonien im besetzten Palästina” warnt, war nicht die Rede. Dafür sprach Hafner von “Fanatikern”, die auf “beiden Seiten” existieren würden. Diesen Menschen sei mit “Verständnis” zu begegnen, forderte der Mitarbeiter in der Bremer Senatskanzlei, der die fortwährenden Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Israel an dieser Stelle nicht benannte.

Die Oldenburgerin Traude Reck trat sich als Rednerin hervor. Als regionale Vorsitzende der “Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft” und als Aktivistin des Vereins “Hilfswerk Palästina” scheint sie sich einer obsessiv anmutenden Tätigkeit verschrieben zu haben. Ihr Auftritt beinhaltete eine erneute Verteidigung des hiesigen Aktivisten Christoph Glanz sowie seiner BDS-Kampagne, die den Staat Israel in seiner Gesamtheit attackiert und durch die Hamas unterstützt wird.

Unterstützt von einigen Anwesenden redete sich Reck, die vor einigen Jahren von RTL zu einer deutschen “Heldin des Alltags” gemacht wurde, in Rage. Dass ihr Zusammenschluss einen Aufmarsch organisierte, an dem sich unter anderem der Betreiber und Anhänger der antisemitischen Internetseite “Muslim Markt” beteiligten, wurde nicht benannt. “Kindermörder Israel”, lautete damals die Parole, durch die Marschierende eine antisemitische Ritualmordlegende aktualisierten. Am Abend verwendete Reck in ihrem Beitrag die dämonisierende Phrase vom “israelischen Apartheidstaat”. 

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Provinzdekoration: SPD-Herz, Werbe-Herz, vegane Selbstdarstellung und Anti-TTIP-Aufkleber (v.l.n.r.)

Kritiker und Lehrmeister

Zuvor übte ein Vertreter der “Deutsch-Israelischen Gesellschaft” (DIG), in der sich manche “Freunde Israels” organisieren, deutliche Kritik an den Inhalten des Referenten. Er warf Hafner unter anderem vor, die aktuelle Literatur über Antisemitismus nicht zu kennen. Als Arbeitsgrundlage nannte der Kritiker den 3-D-Test, durch den sich Antisemitismus ausmachen ließe. Teilnehmer_innen ignorierten die Hinweise, um weiterhin anti-israelische Ressentiments zu artikulieren, die in dem Hinterraum der angeblich “Ruhe und Gemütlichkeit in kubanischer Atmosphäre” bietenden Lokalität aus anwesenden Zeitgenossen herausbrachen.

Der Referent verwies nach diesen ersten Einlassungen auf jüdische Bekanntschaften wie David Grossman oder Amoz Oz, mit denen er gegen eine “unsägliche Besatzungspolitik” polemisierte. Während er von der Situation im Gaza-Streifen und in anderen Territorien schwieg, in der antisemitische Banden Menschen durch Tugendterror unterdrücken, sprach er immer wieder über Israel und gegen die dortige Regierung an. Vor einer Einordnung der BDS-Bewegung drückte sich Hafner, dem sogar der hanseatische Ableger der Boykottkampagne unbekannt schien.

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Provinzreferenten: Ulf Prange und Helmut Hafner

Immerhin räumte der Sozialdemokrat, der sich weigert Antisemiten zu benennen, im Laufe der Veranstaltung ein, dass er “kein Experte” für Antisemitismus sei. Er habe “nicht die neue Literatur” zum Thema “gelesen”, sagte der Referent. Dass sich auch in den vergangenen Jahrzehnten Autoren mit Antisemitismus und dessen Fortleben innerhalb deutscher Ideologie befasst haben, wurde nicht benannt. Interventionen eines Moishe Postone, die Untersuchungen einer Eleonore Sterling oder Beobachtungen eines Jean Amery scheinen den Referenten nicht erreicht zu haben, obwohl sie bereits vor Jahrzehnten entstanden.

Indem der Vortragende am Ende des Abends zum Lehrmeister mutierte, der sich trotz oder wegen der deutschen Geschichte anmaßt, die israelische Politik zu beurteilen, schien sich eine Beobachtung von Wolfgang Pohrt zu bewahrheiten. Es existiere eine deutsche Obsession, “Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde“, sagte er vor langer Zeit. “Man muss auch die Politik Israels kritisch betrachten”, forderte Hafner mit einer gewissen Deutlichkeit. Ähnliche Schlussfolgerungen scheint auch die lokale SPD zu ziehen.

Im Anschluss an den Abend veröffentlichte die Partei ein Statement, in dem die Ausfälle des Referenten zum “guten Einstieg” gemacht wurden. Von den Thesen des Helmut Hafner, der die kollektive Schuld ablehnt, israelische Politik kritisieren möchte und sich vor einer Einordnung aktueller und vergangener Erscheinungsformen des Antisemitismus drückt, ist nicht die Rede. Trotzdem positioniert sich der Ortsverein deutlich“Klar aufgezeigt wurde, wo der Unterschied zwischen Antisemitismus und Kritik an israelischer Politik liegt.” 

Einordnung eines Abends

Tatsächlich offenbarten zahlreiche Besucher_innen ihre Ressentiments, wenn von israelischer Politik die Rede war. Unter Bannern der Sozialdemokratie empörten sich Teilnehmer_innen über “Siedlungspolitik”, “Checkpoints und Kontrollen”. Selbst das örtliche Provinzblatt berichtet, dass Anwesende über “Kollektivschuld und Siedlungspolitik in Israel” sprachen, womit wesentliche Inhalte des Abends benannt sind. So bot die Sozialdemokratie die Bühne für die Fortführung von Einlassungen, die in der Stadt seit vielen Monaten formuliert werden. Zwar gab es verbale Distanzierungen, aber auch reichlich Ressentiments, die Teilnehmer_innen der Veranstaltung in aller Deutlichkeit offenbarten.

Ortsverband, Referent und Teilnehmer_innen seien daher an eine Intervention des Kritikers Joachim Bruhn erinnert, der sich bereits 2003 mit Fragen befasste, die die hiesige SPD und große Teile des anwesenden Publikums ganz anders beantworten: “Ob jede Kritik am Staat Israel antisemitisch ist, kann man nur mit einem glasklaren Ja beantworten”. Sie würde sich gegen den israelischen Staat richten, der revolutionäre Emanzipationsgewalt von Jüdinnen und Juden ist. Kritik könne “nur aus der Perspektive des Abscheus vor dieser Emanzipation geäußert werden”, polemisierte Bruhn vor mehr als zehn Jahren. Der Abend unter Sozialdemokrat_innen scheint zu zeigen, wie aktuell dieses Urteil ist.

 

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